Pressen Duroplastverarbeitung
Schneller und energieeffizienter
Man mache eine Menge durch, fiel schon Heinz Erhard zum Thema Brille ein. Wer Brillen, genauer Toilettensitzgarnituren, in Hochlohnländern wettbewerbsfähig fertigen will, muss die Rationalisierungs- und Einsparpotenziale ausnutzen. Das gilt auch für höher und hochwertige Produkte. Die werden in immer mehr Varianten angeboten, um Kundenbedürfnissen nach Form, Qualität und Haptik entgegen zu kommen. Die Spanne reicht von Baumarktqualitäten mit etwa 1600 Gramm bis zu Designerexemplaren mit über 3000 Gramm pro Garnitur. Standardsitze sind 370 Millimeter bereit bei 450 Millimeter Tiefe. Designersitze liegen bei 410 × 520 Millimeter und Bidets bringen es auf 370 × 550 Millimeter. Zu diesen Grundmaßen kommen je nach Modellpolitik noch unterschiedliche Formen. Entsprechend haben die Hersteller zwischen 50 bis über 200 Presswerkzeuge im Bestand. Die Werkzeugabmessungen liegen meist bei 500 × 600 × 250 Millimeter, ihre Gewichte zwischen 600 und etwa 1000 Kilogramm. Diese Vielfalt stellt hohe Anforderungen an die Automation des Prozesses. Bei der Herstellung duroplastischer Pressteile geht Viebahn neue Wege. Das betrifft den Werkzeugwechsel, die Prozessführung beim Pressen sowie die robotergestützte Automation bei der Teileentnahme und dem Entgraten.
Themen im Artikel
Energieeffizienz beim Werkzeugwechsel
Der reine Werkzeugwechsel auf der Presse erfordert nur 15 Minuten – den Engpass verursacht die für den Prozess erforderliche Werkzeug- beziehungsweise Arbeitstemperatur. Ein kalt eingebautes Werkzeug ohne eigene Heizung muss indirekt über zusätzlich unter dem Werkzeug installierte Heizplatten erwärmt werden. Um die Arbeitstemperatur von 150 Grad Celsius zu erreichen, sind rund 90 Minuten erforderlich. Deutlich schneller geht es mit einem zuvor auf etwa 130 Grad Celsius vorgewärmtem Werkzeug. Dann beträgt die Restheizzeit nach Einbau nur noch 20 Minuten. Doch der Zeitgewinn ist teuer erkauft, denn die unter dem Werkzeug installierten Heizplatten verbrauchen viel Energie. Der Gummersbacher Pressenhersteller konstruierte deshalb Werkzeuge mit eigener Heizung und intelligent angeordneten Heizelementen. Das ist energetisch günstiger und verkürzt die Aufwärmzeit auf insgesamt 40 Minuten. Bei der Produktion von Toilettensitzen aus duroplastischen Materialien hat sich das Pressen als Standard etabliert. Als Ausgangsmaterial dient ein noch nicht dreidimensional vernetztes Harzpulver, das erst durch allmähliches Erwärmen und Erhöhen des Drucks unter Wasserabspaltung vernetzt. Das Presswerkzeug dient dabei als Reaktor für einen chemischen Vernetzungsprozess, der ab etwa 80 bis 90 Grad Celsius startet und bei 130 bis 145 Grad Celsius sein Optimum erreicht. Das ist der Zeitpunkt für das vollständige Schließen des Werkzeugs, um die Ausformung des noch plastischen Materials zu erreichen. Seine endgültige Härte erhält das Duromerteil jedoch erst nach vollständiger Aushärtung und Abkühlung auf Raumtemperatur.
Prozessführung ist alles
Ein Problem des Verfahrens ergibt die Wasserabspaltung aus der Polykondensationsreaktion. Aufgrund der hohen Kerntemperatur der Teile von etwa 140 Grad Celsius und einem Überdruck von 3 bar liegt das Wasser im Kornverband als Wasserdampf vor. Dieser drängt bei zu frühem Öffnen des Werkzeugs zum Expandieren und aus dem noch nicht vollständig vernetzten Verband zu entweichen. Die Folgen sind Blasenbildung und Materialabplatzungen. Konventionell vermeidet man das durch langes Aushärten des Teils im geschlossenen Werkzeug. Weiter müssen bei herkömmlicher Technik die entnommenen Teile erst auskühlen, bevor sie zum manuellen Entgraten gelangen. Das erfordert zusätzlichen Lagerplatz.
Kürzere Zykluszeiten erfordern also eine andere Prozessführung. Erster Innovationsschritt ist die vorgeschaltete Harzvorwärmung. Das Erwärmen des Harzpulvers vor dem Befüllen der Presswerkzeuge bis auf 80 Grad Celsius startet die Polykondensationsreaktion. Dabei lässt sich bereits ein großer Teil des Reaktionswassers noch außerhalb der Werkzeugform abführen. Anschließend gibt man das Harzpulver in das Werkzeug, um es dort im geschlossenen Zustand weiter zu Erhitzen und möglichst viel Wasser in Form von Wasserdampf zu erzeugen. Dieser Wasserdampf wird kontrolliert abgeführt. Das Know-how in der Prozessführung besteht vor allem darin, den richtigen Zeitpunkt auf der Positions- und Druckgrafik des Anlagenbildschirms zu erkennen. Vorteil dieses Verfahrens ist, dass der innere Druck des Wasserdampfes am Ende des Vernetzungsprozesses deutlich geringer ist als bei der konventionellen Methode. So lassen sich die noch heißen Teile gefahrlos entnehmen und bei erhöhter Temperatur entgraten. Und das zahlt sich aus.
Das Entnehmen der Teile mit dem Roboter bringt einen erheblichen Zeitgewinn, und die noch nicht vollständig ausgehärteten Werkstücke erfordern beim Fräsen geringere Kräfte. Das bedeutet weniger Energiebedarf beim Fräsen, kürzere Bearbeitungszeiten und höhere Standzeiten des Fräsers. Das Entgraten per Roboter ist ein wichtiger Teil des Automationskonzepts. Es garantiert die hohe und stets gleichbleibende Bearbeitungsqualität. Dabei setzt Dr. Ulrich Viebahn, Geschäftsführender Inhaber des Pressenherstellers, auf Robotertechnik von ABB. „Unsere Applikationen sind von der Bahngenauigkeit her sehr anspruchsvoll im Vergleich zum Schweißen, Montieren oder Gussentgraten. Hier haben uns die präzise arbeitenden, praktisch wartungsfreien und robusten Roboter überzeugt. Weitere Gründe sind die rasche und kompetente Betreuung unserer eigenen Roboterfachleute sowie die gute Schulung unserer Endkunden oder die Betreuung unserer ausländischen Kunden durch ABB-Spezialisten.“
Roboter in Aktion
Als Standard-Roboter ist in der Fertigungszelle FSR400 ein IRB 2400 installiert. Bei schweren Toilettensitzgarnituren kommt alternativ ein IRB 4400 zum Einsatz. Der Roboter ist platzsparend zwischen den beiden Pressen positioniert. So kann er die noch heißen Pressteile mit seinem Spezialgreifer wechselweise aus den Werkzeugen der beiden Pressen nehmen und direkt an den feststehenden Fräser zum Bearbeiten führen. Der Fräsvorgang muss unmittelbar nach der Werkstückentnahme folgen. Das hat neben der geringeren Belastung des Fräsers beim Heißentgraten einen weiteren Grund. Die Roboterbahnen sind bei diesem Verfahren auf die Abmessungen des noch heißen Teils programmiert. Im Heißzustand behält es für eine ausreichend lange Zeit noch die Abmessungen des Werkzeugs. Und dieses Zeitfenster nutzt der Roboter. Sonst müsste man die Roboterbahnen jeweils neu berechnen um die unterschiedlichen Abkühlungsschrumpfungen zu kompensieren. Nur so ließe sich vermeiden, dass der Roboter außen zu wenig und innen zu viel Material beim Entgraten entfernt. Das wäre jedoch kompliziert und zu zeitaufwändig. Hat der Roboter im ersten Teilschritt einen Sitz entnommen, stehen ihm etwa 45 Sekunden zum Fräsen zur Verfügung. Dann legt er den bearbeiteten Sitz auf das Transportband und holt sich den zugehörigen Deckel aus dem anderen Presswerkzeug. Das Bearbeiten des Deckels dauert etwa 25 Sekunden. Nachdem er diesen ebenfalls auf dem Transportband abgelegt hat, beginnt der Zyklus von vorn.
Roboterfräsen aus qualitativer Sicht
Bei der Prozesssteuerung kommt es auf die korrekte Abstimmung der beiden Pressentakte beziehungsweise der Öffnungszeiten der Werkzeuge mit den Aktionen des Roboters an. Dieses Zusammenspiel ist entscheidend für die Maßgenauigkeit der Teile. Es ist auszuschließen, dass eine der Pressen mit einem fertigen Teil im offenen Werkzeug auf den Roboter wartet, während dieser noch mit dem Bearbeiten des zuvor entnommenen Teils beschäftigt ist. Im geöffneten Werkzeug kühlt das Teil bereits ab. Ist diese Abkühlung zu weit fortgeschritten, stimmen aufgrund der Schrumpfung die im Teach-Modus eingegebenen Fräskonturen nicht mehr. Manuelles Fräsen, Schleifen oder Polieren ist eine körperlich anstrengende, physiologisch belastende und infolge der Monotonie geistig ermüdende Arbeit. Das manuelle Entgraten von Pressteilen geschieht überwiegend durch Feilen oder mit Schleifbändern und nicht mit Fräsern, weil letztere oft haken. Es ist unmöglich, einen Schleifer manuell über einen längeren Zeitraum mit immer exakt gleichem Anpressdruck oder konstanter Geschwindigkeit entlang vorgegebener Konturen zu führen. Das gleiche gilt im umgekehrten Fall des Anpressens der Werkstücke an feststehende Bandschleifer. Muskuläre Ermüdung und nachlassende Konzentration infolge Staub, Lärm und weiterer Stressfaktoren haben dann schnell Qualitätsschwankungen beim Entgraten zur Folge. Der Roboter dagegen eignet sich bestens zum mechanischen Bearbeiten von Werkstücken. Er fährt die einmal erlernten Bahnen ohne Ermüdung ab – immer mit gleicher Geschwindigkeit, Präzision und Qualität. Für das präzise Fräsen mit dem werkstückführenden Roboter ist ein punktgenaues Fixieren und Positionieren der Teile vor dem feststehenden Fräser erforderlich. Dazu verfügt der Roboter über einen speziell an die Konturen der Sitze und Deckel angepassten Sauggreifer. Dieser hält die Teile fest genug, um eine ausreichende Steifigkeit zur Aufnahme der auf den Fräser einwirkenden Zerspanungskräfte zu gewährleisten und das jeweilige Teil positionsgenau am Fräser entlang zu führen. Ein weiterer Vorteil des Roboterfräsens zeigt sich bei Modellwechseln. Der Kunde hat die Möglichkeit, unterschiedliche Fräskonturen in der Robotersteuerung zu speichern. Die von Viebahn entwickelten Fräsprogramme enthalten Programmnummern für jeden Produkttyp beim Kunden. Anhand dieser kann der Werker über das Bedienpanel der FSR400 das entsprechende Bearbeitungsprogramm wählen. Optional lassen sich auch die Werkzeuge kodieren. Das System erkennt automatisch, welchen Typ der Roboter aus der Presse nehmen und wie er es fräsen muss. Dazu übergibt die Pressensteuerung die zugehörige Werkzeugnummer an den Roboter, der sich das entsprechende Fräsprogramm vom Leitrechner holt. Weiter erlauben die modular aufgebauten Programme die Wahl der Bearbeitungsschritte. So kann der Bediener über die Eingabe eines zweiten Parameters unterschiedliche Aktionen wie das Fräsen oder das Bohren von Scharnieren steuern. Dazu sind keine speziellen Programmierkenntnisse oder Eingriffe in das Roboterprogramm erforderlich.
Bei allen technisch-wirtschaftlichen Aspekten ist ein zusätzlicher Punkt nicht zu vernachlässigen: Ein Grund für den Einsatz robotergesteuerter Frässysteme ist die Gesundheit der Mitarbeiter. Monotone körperliche Belastung ist eine der häufigsten Ursachen für physiologisch bedingte Langzeitschäden. Von Hand geführte Schleifer üben permanent Vibrationen auf den Körper aus und wirken in erster Linie auf Hand und Arm.
Arbeitsplätze menschenfreundlicher machen
Die Folgen sind oft irreparable, degenerative Erkrankungen von Knochen, Nerven und Muskeln. Dank des Roboterfräsens lassen sich diese Belastungen für den Menschen ausschließen. Der Mitarbeiter kann sich auf die Überwachung des Prozesses und das manuelle Verpacken der Produkte konzentrieren. Für letzteres stehen ihm etwa 120 Sekunden pro Garnitur zur Verfügung. In dieser Zeit stellt er einen Einzelkarton inklusive 5-fach-Umkarton auf, legt die Verschraubungen und Anleitungen hinzu und montiert Gummipuffer, Scharnierhülsen sowie eventuell zugehörige Dämpfer. Abschließend verschweißt er die Teile in Schutzfolie.
Duroplastfertigung wirtschaftlicher machen
Das Beseitigen von Engpässen durch gezieltes Optimieren kritischer Teilprozesse führt zu erheblichen Effizienzgewinnen bei Herstellungs-, Handhabungs- und Bearbeitungsverfahren. Ein Schritt ist dabei das Umstellen fehleranfälliger manueller Bearbeitungsverfahren auf robotergestützte Automation. Das hilft Energie und Rohstoffe zu sparen, erhöht die Ausbringung von Gutteilen und steigert die Flexibilität von Produktionsverfahren. Der hier gezeigte Prozess zum Herstellen von Toilettensitzgarnituren lässt sich auf andere Produkte aus Duromer-Pressteilen übertragen. Die sorgfältige Auswahl der Automatisierungskomponenten trägt in jedem Fall dazu bei, dass das Unternehmen mit hoher Prozesssicherheit effizienter fertigt, statt „viel durchzumachen“.