Digital Twins in der Kunststoffindustrie
Mit kleinen Schritten zum großen Ziel
Die autonome Maschine, die sich selbst konfiguriert, oder neue Verfahrenstechnik, die sich rein digital erproben lässt – so sehen die Zukunftsszenarien der Digital-Twin-Technologie aus. Mit kleineren Anwendungen können Unternehmen den Weg für die großen Ziele ebnen – ein Beispiel dafür ist ein digitales Typenschild, in dem Informationen gesammelt werden und dem Kunden durch Abscannen eines QR-Codes zugänglich gemacht werden können.
Es sind herausfordernde Zeiten, auch und gerade für die Kunststoffindustrie: Aufgrund des anhaltenden Fachkräftemangels bleibt spezialisiertes Personal für Wartung und Betrieb von Maschinen Mangelware. Darüber hinaus sind Lieferketten in vielen Bereichen weiterhin unterbrochen oder eingeschränkt, Material ist knapp oder nur zu deutlich gestiegenen Preisen erhältlich.
Hoffnungsträger digitaler Zwilling
Als besonders vielversprechend wird die Technologie des digitalen Zwillings gehandelt. Das virtuelle Abbild von Maschinen oder ganzen Produktionsumgebungen hat das Potenzial, zum Schlüssel für effiziente und hochautomatisierte Kunststoffprozesse der Zukunft zu werden.
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Mithilfe digitaler Zwillinge wird es für Maschinen beispielsweise möglich, sich selbst zu konfigurieren und optimal an die jeweiligen Standortgegebenheiten anzupassen. Wichtig ist dies beispielsweise in Bezug auf Umgebungstemperatur oder Luftfeuchtigkeit, die Auswirkungen auf die Eigenschaften des Kunststoffs wie etwa seine statische Aufladung haben. Dazu wird die Umgebung selbst als digitaler Zwilling abgebildet und so in ein entsprechendes Automatisierungsszenario integriert. Für die Konfiguration der Maschine ist dann deutlich weniger manueller Aufwand und damit Personal erforderlich.
Auch bezüglich der Materialkosten ließen sich Einsparungen erzielen, etwa beim Anfahren neuer Produkte oder Rezepturen. Die digitale Abbildung physikalischer Parameter wie Extruder-Drehzahl, Temperatur der Schmelze, Drücke im System oder Viskosität schafft die Grundlage dafür, etwa mithilfe von KI verschiedene Verfahrenstechniken zur Ermittlung der optimalen Fertigungsparameter austesten zu können – ohne dafür hunderte Kilo an Kunststoffgranulat zu vergeuden. Gerade bei teuren Materialien der Automotive-Industrie wie zum Beispiel Polycarbonat (PC) oder Polyamide (PA) lassen sich so die Kosten deutlich senken. Schließlich legen digitale Zwillinge auch die Grundlage für smarte Wartungsszenarien wie Predictive Maintenance, durch die Wartungsteams von einem Ausfall bedrohte Bauteile oder Maschinenkomponenten vorab identifizieren und austauschen können, bevor diese im schlimmsten Fall einen vollständigen Stillstand der Maschine oder Anlage zur Folge haben. Damit lassen sich auch die teils hohen Folgekosten vermeiden, die sich je nach genutztem Werkstoff durch einen Extruder-Stillstand ergeben: Materialien wie PVC etwa verhärten und müssen sehr aufwendig gereinigt werden. Verbleiben dabei Reste im Extruder, beeinträchtigt dies wiederum die Rheologie, wodurch sich etwa Black Spots – verbrannte Materialbereiche – bilden können.
Mit Digital-Twin-Szenarien die Basis schaffen
Angesichts der bestehenden Herausforderungen gehört Szenarien wie diesen die Zukunft in der Kunststoffindustrie. Dennoch versteht es sich von selbst, dass entsprechende Anwendungen nicht von heute auf morgen ihren Live-Betrieb aufnehmen können. Gerade aus diesem Grund gilt es, bereits jetzt die richtigen Weichen zu stellen und mit der schrittweisen Implementierung der Digital-Twin-Technologie zu beginnen.
Ein entsprechendes Szenario, durch das sich zudem sehr niederschwellig konkrete Vorteile in der Praxis erzielen lassen, ist etwa das digitale Typenschild. Dabei handelt es sich um einen digitalen Zwilling einer Maschine oder Anlage, in dem sich Informationen wie Extruder-Daten, verbaute Motoren, Wartungshistorie oder Dokumentationen sammeln und dem Kunden durch Abscannen eines QR-Codes auf der Maschine als digitalen Mehrwert zugänglich machen lassen. So erhalten Anwender:innen zum Beispiel umfassende Einblicke in Betriebs- und Verbrauchsdaten oder bei einer Fehlfunktion unmittelbar Zugriff auf ein Video-Tutorial, das ihnen den Austausch der beschädigten Komponente selbst ermöglicht.
Mit der Realisierung überschaubarer Szenarien wie diesem schaffen Unternehmen nach und nach die Grundlage, auch umfassendere Anwendungsfälle umzusetzen. Denn so entstehen Schritt für Schritt rudimentäre digitale Zwillinge aller Maschinen, auf denen die Unternehmen schließlich komplexere Anwendungen aufbauen können.
Standards müssen Standard werden
Damit die erstellten digitalen Zwillinge dann jedoch problemlos miteinander kommunizieren können, ist eine zuverlässige Einhaltung etablierter Standards unerlässlich. Eine solche Standardisierung vollzieht sich derzeit in Form der vom VDMA unterstützten Verwaltungsschale (VWS) beziehungsweise Asset Administration Shell (AAS). Diese definiert, in welchem Format und mit welchen Kennzeichnungen die digitalen Zwillinge Parameter wie beispielweise die Temperatur der Schmelze darstellen. Durch diese fest geregelte Struktur lassen sich verschiedene Verwaltungsschalen wie durch einen „Datenstecker“ ohne Anpassungsaufwand zusammenschalten.
Entscheidend ist diese Interoperabilität vor allem auch deshalb, weil Maschinenhersteller Komponenten wie Dosierungen, Vakuumpumpen, Granulierungen oder Motoren oft von verschiedenen Zulieferern integrieren. Liefern diese die digitalen Zwillinge ihrer Komponenten im einheitlichen Format der Verwaltungsschale mit, lassen sich daraus – quasi parallel zur Montage in der Werkshalle – auch die digitalen Zwillinge der Maschine ohne Weiteres zusammensetzen.
Schritt für Schritt zur Kunststofffertigung der Zukunft
Weniger manueller Wartungs- und Konfigurationsaufwand, geringere Materialverbräuche, optimierte Produktivzeiten – das große Zielszenario der Kunststoffindustrie ist zweifellos die vollständig autonome Maschine. Doch auch wenn diese wohl noch für einige Zeit Zukunftsmusik bleibt, ist es entscheidend, sie als großes Ziel im Auge zu behalten, um den richtigen Weg dorthin einzuschlagen.
Die ersten Schritte dazu lassen sich bereits durch einfach umzusetzende Szenarien wie das digitale Typenschild realisieren, das nicht nur elementare Vorarbeit für die digitale Kunststofffertigung der Zukunft schafft, sondern schon heute einen konkreten Nutzen mit sich bringt.
Autor: Christian Heinrich, Digital-Twin-Experte bei Xitaso