Datensätze mit realen Prozessmessungen ergänzen
In der Simulation zählen alle Details
In der Prozesssimulation stoßen die klassischen Labordaten der Kunststoffhersteller oft an ihre Grenzen, weil sie keine Informationen zur realen Verarbeitung berücksichtigen. Sigmasoft hat mit Virtual Thermoplastics einen Ansatz entwickelt, wie thermoplastische Datensätze für die Simulation erweitert und optimiert werden können.
Matchmaker+
Genaue Materialdaten sind Grundvoraussetzung für realitätsnahe Ergebnisse in der Simulationswelt. Bei Kunststoffen sind diese in der Regel von den Herstellern im Labor, teils vor langer Zeit, ermittelt worden. Neben mechanischen Werten wird hier natürlich auch das Fließ- und Erstarrungsverhalten in Abhängigkeit von Druck und Temperatur in standardisierten Methoden beschrieben.
Die Leistungsfähigkeit moderner Prozesssimulation ist in den letzten zwei Dekaden enorm gestiegen. Ingenieur:innen erwarten heute nicht nur die präzise Umsetzung des Füll- und Erstarrungsvorgangs, sondern wollen genau wissen, wie das Bauteil nach der Entformung und Abkühlung aussieht. Hier treten durch Schwindung und Verzug die teuersten Probleme auf, die es natürlich zu vermeiden gilt. Die klassischen Labordaten stoßen hier an ihre Grenzen, weil sie keine Informationen zur realen Verarbeitung erhalten. Sigmasoft hat hierzu mit Virtual Thermoplastics einen Ansatz entwickelt, wie thermoplastische Datensätze für die Simulation erweitert und optimiert werden können.
Für die präzise Simulation von Kunststoff-Spritzguss mit Virtual Molding sind die gesamten Werkzeugdaten inklusive aller Details, dem gesamten Temperiersystem, jeder Werkzeugplatte, jeder Schraube und jedem Einsatz von großer Bedeutung. Diese werden im Modell mit ihren jeweiligen typischen Materialkennwerten angelegt. Die Herausforderung einer passgenauen Simulation ist das dynamische Verhalten der Kunststoffe im Prozess, abhängig von den lokalen Parametern. Wird ein bestehendes Materialgesetz für zwei verschiedene Bauteile eingesetzt, kommt es vor, dass unterschiedlich passende Simulationsergebnisse berechnet werden – das eine besser, das andere schlechter. Die Gründe dafür können vielseitig sein: Komplexität und Größe des Bauteils, die eingestellten Parameter (zum Beispiel Werkzeugtemperatur, Massetemperatur) oder auch die Simulation mit klassischen, prozessunabhängigen Materialdaten. Warum sich aber prozessabhängig bestimmte Daten besser eignen, zeigt das folgende Sigmasoft-Projekt von Tecnifreza.
Artikel zum Thema
Schwindung und Verzug in der Praxis
Schwindung und Verzug kann durch viele Faktoren beeinflusst werden, wie beispielsweise die lokale Werkzeugwandtemperatur, das Abkühlverhalten oder der Erstarrungsdruck. Auch Molekül- und Faserorientierung, die Einspritzgeschwindigkeit, geometrische Durchbrüche, Wanddickensprünge oder auch Bindenähte sind neben vielen weiteren Einflüssen zu berücksichtigen, wenn genaue Ergebnisse erzielt werden sollen. Der Sigmasoft-Virtual-Molding-Ansatz macht es bereits jetzt möglich, die gesamte Werkzeugkonstruktion mit in die Simulation einzubeziehen.
In Abbildung 1 ist ein von zwei Seiten angespritztes Steckergehäuse zu sehen, das in der ersten Simulation mit dem Herstellerdatensatz berechnet wurde – das Bauteil ist verzogen. Dargestellt ist die ursprüngliche Form (transparent) gegenüber dem Verhalten des Bauteils (maßstäblich verstärkt dargestellt).
Genau dieses Verhalten konnte auch im Prototyping beobachtet werden. Die Bindenaht liegt in der Mitte des Bauteils. Ihre Position wurde als Ursache für den Verzug identifiziert, denn sie führt lokal zu einem Wechsel der Faserorientierung. Mechanisch gesehen ist das Bauteil aufgrund der Bauteilgeometrie in der Mitte am instabilsten. Das Ziel der simulativen Optimierung war, die Bindenaht in einen formstabilen Bereich des Bauteils mit Rippen zu verschieben.
Schrittweise optimieren
Für die erste simulative Optimierung wurden drei verschiedene Lösungen gegenübergestellt. Dazu gehörten eine Verjüngung des Angusses, eine Verjüngung des Anschnitts oder eine Aufdickung. Der Vergleich der Auswirkungen ist in Abbildung 2 dargestellt.
Die Verjüngung bringt im Gegensatz zu den anderen beiden Varianten den gewünschten Effekt. In der Abbildung links dargestellt sind die Fasern in Y sichtbar gemacht worden. Die Bindenaht, die sich dort bildet, ist in den formstabilen Bereich verschoben. Das Ergebnis rechts bestätigt diesen Eindruck, wenn der Verzug betrachtet wird. Die anderen beiden Varianten weisen weder eine signifikante Verschiebung der Bindenaht auf, noch ist der Verzug verbessert.
Anhand dieser Ergebnisse ging es in die Praxis, und Versuche am Werkzeug wurden durchgeführt. Der Verzug und die Ergebnisse der Bauteile waren besser, aber noch nicht innerhalb der erforderlichen Toleranzen. In Abbildung 3 links oben ist nach einem CT-Scan weiterhin eine Abweichung zu sehen. Die roten und blauen Bereiche bedeuten, dass das Bauteil an diesen Stellen noch zu stark außerhalb vorgegebener Abmessungen ist.
Näher am Endergebnis
Um dieses Verhalten im Detail zu verstehen und in der Simulation noch exakter zu rechnen, wurde mit der Virtual-Thermoplastics-Methode der Materialdatensatz mit realen Prozessmessungen ergänzt. Anhand dieser prozessabhängigen Daten wird das Materialverhalten im Detail sichtbar. Nachdem die Messungen in einen simulationsfähigen Materialdatensatz überführt wurden, wurde das Bauteil erneut simuliert und ein CT-Scan des neuen Prototypen gemacht. Das Ergebnis ist in Abbildung 3 unten rechts zu sehen. Das Bauteil liegt innerhalb der Toleranzen und es weist kaum noch Stellen auf, an denen sich das Gehäuse überhaupt verzieht.
Virtual Thermoplastics bietet die Möglichkeit, die Simulation für Thermoplaste prozessabhängig zu verbessern. Damit bietet sich der Mehrwert, genauere und zuverlässigere Simulationsergebnisse zu erhalten.