Miele gewinnt Materialparameter für die Simulation pragmatisch
Der Belastung sicher standhalten
Kunststoffbauteile unterliegen bei Belastung nicht nur plastischen Verformungen, es sind auch zeitabhängige Effekte wie Kriechen und Spannungsrelaxation zu berücksichtigen. Moderne Simulationssysteme können den Konstrukteur hier unterstützen - wenn der die erforderlichen Werkstoffkennwerte auftreiben kann. Und das ist mitunter gar nicht so einfach.
Das Berechnen von Kunststoffbauteilen gehört zu den besonderen Herausforderungen an den Berechnungsingenieur. Die Auswirkungen der auf die Werkstücke wirkenden Kräfte hängt von einer Vielzahl von Parametern ab, die in Simulationsprogrammen berücksichtigt werden müssen, um realistische, praxisrelevante Ergebnisse zu generieren. Grundsätzlich führen drei Wege zu diesen Werten: Datenbanken, Materiallieferanten oder Messungen an Zugproben. Jedoch führen diese Wege nicht immer direkt zum Ziel. Miele hat in Zusammenarbeit mit Cadfem nach einer pragmatischen Alternative gesucht und ein Verfahren entwickelt, um die erforderlichen Materialparameter bestmöglich zu bestimmen.
Dazu wurde ein bereits existierendes Bauteil aus dem zu untersuchenden Material einem einfachen mechanischen Test unterzogen. Dieser Test wurde anschließend in der Simulation nachgestellt, um über Optimierungsrechnungen, bei denen die Werkstoffparameter variiert wurden, eine möglichst geringe Abweichung zwischen gemessener und berechneter Kraftreaktion zu erreichen.
In diesem Fall interessierte nicht nur das plastische Materialverhalten, sondern auch das Relaxieren. Der Versuch fand deshalb in zwei Abschnitten statt. Zunächst wurde das Bauteil relativ schnell, in unter 1 Sekunde, verformt, um den viskosen Einfluss klein zu halten. Diese vorgegebene Verformung wurde anschließend über einen Zeitraum bis 2,5 Stunden konstant gehalten und der Kraftabfall gemessen. Daraus ergab sich die Möglichkeit, das elastisch-plastische Materialverhalten und das zeitabhängige Materialverhalten (Relaxieren) in separaten Optimierungsrechnungen zu ermitteln.
Die Parameter sind zum einen der E-Modul und in diesem Beispiel drei Stützstellen im multilinearen Plastizitätsgesetz und zum anderen die für das gewählte Kriechgesetz erforderlichen Parameter. Die Aufteilung in mehrere Optimierungsrechnungen bietet dank der daraus resultierenden Reduktion der Parameterzahl entscheidende Vorteile. So war es möglich, die Aufgabenstellung im Ansys Designxplorer zu lösen.
Optimierung Schritt für Schritt
Zunächst wurde in der ersten Optimierung versucht, den rechnerischen E-Modul des Werkstoffs so anzupassen, dass sich am Ende des Elastizitätsbereichs der Messkurve (I) bei vorgegebener Verformung die gemessene Reaktionskraft auch in der Simulation einstellt. In dieser Rechnung wurde auch die maximal auftretende Vergleichsspannung im Bauteil ermittelt, sie diente als erster Stützpunkt (εpl1,σ1) für das multilinear-isotrope plastische Materialgesetz.
In der zweiten Optimierung wurden der Endpunkt des Plastizitätsgesetzes (II) und ein weiterer, mittig liegender Stützpunkt (III) mit dem Ziel variiert, den gemessenen Kraftverlauf in der Simulation möglichst gut widerzuspiegeln. Dabei müssen die Geradenabschnitte im Plastizitätsgesetz streng monoton steigend sein. Besonders einfach lässt sich das in einem parametrisierten APDL-Skript sicherstellen, das das Werkstoffgesetz in der Ansys Workbench modifiziert. Der entsprechende Parameter für σ2 ist dabei kein Absolutwert für die Spannung, sondern ein relativer Parameter, der im Designxplorer in den Grenzen zwischen 0 und 1 variiert wurde. Das APDL-Skript generiert daraus den zulässigen Spannungswert für σ2 zwischen σ2,min und σ3. Die Berechnungsvorschrift dafür ist sehr simpel.
Zur Implementierung der Relaxationseffekte wurden die Materialeigenschaften um das "Modified Time Hardening"-Gesetz erweitert. Die Entwicklung der Kriechdehnungen εcr in Abhängigkeit von der Spannung σ, Zeit t sowie den Konstanten C1, C2 und C3 ergibt sich zu:
Für die Anpassung stand ein Kraft-Zeit-Verlauf aus dem Experiment zur Verfügung.
Für die Bestimmung der Anfangswerte der Materialparameter wurde angenommen, dass der Spannungs-Zeit-Verlauf dem Kraft-Zeit-Verlauf ähnlich ist, was streng nur für eine lineare Abhängigkeit der Kriechdehnung von der Spannung (C2=1) zutrifft. Dann ist auch die Zunahme der Kriechdehnung proportional zum Verlust der Kraft. Diese Information genügt für die Festlegung von C3. Der Term C1σC2 bestimmt den Betrag der Kriechdehnung. Dessen Startwert wurde aus der maximalen Spannung im Modell und der dieser zugeordneten Dehnung für die Endzeit aus einem Isochronen-Diagramm für einen verwandten Werkstoff bestimmt. C2 ist erfahrungsgemäß größer als 1 - als Startwert wird 1,2 gewählt.
C1 und C3 lassen sich durch zwei von der Sollkurve abgelesene Wertepaare bestimmen. Beide müssen die Kriechgleichung erfüllen:
Dieses Gleichungssystem lässt sich nach C3 und C1 auflösen. Für die Güte der Annäherung kommt allerdings der Auswahl der Stützstellen besondere Bedeutung zu, so dass C1 und C3 zum Beispiel auch durch Variation in Excel (optisch) anpassbar sind, wobei C3 negativ sein muss. Die weitere Anpassung geschieht durch Optimierung im Designxplorer.
Als Zielfunktion ist zu minimieren (Fehlerquadrat). Dabei steht nSt für die Anzahl der berücksichtigten Stützstellen, Frechn ist die mit dem FE-Modell berechnete und Fmess die im Versuch gemessene Kraft zum Zeitpunkt ti. Design-Variablen sind die Materialparameter C1, C2 und C3. Für C1 in der Größenordnung 10-5, C2 ¿ 1,2 und C3 ≈ -0,9 bei der Zeiteinheit s und der Spannungseinheit N/mm² ergab sich im ersten Optimierungsdurchgang die Annäherung aus dem Diagramm.
Lösung für den Praktiker
Dieses Verfahren ist zusammen mit Cadfem erfolgreich getestet worden und wird bei Miele auch weiterhin bei entsprechenden Aufgaben angewendet. Es genügt vielleicht nicht streng akademischen Ansprüchen, aber es ist pragmatisch, schnell und erfolgreich und vor allem erleichtert es dem Berechnungsingenieur das Leben.
Der Beitrag basiert auf einem Manuskript von Matthias Hollenhorst, Miele & Cie. KG, Dr.-Ing. Ansgar Polley, CADFEM GmbH und Prof. Dr.-Ing. Wilhelm Rust, FH Hannover