Meinung
Geschichte und Zukunft
Werkstoffe zu haben, die besser sind als die der Natur entnommenen, ist eine jahrhundertealte Idee: Laut Deutschem Kunststoffmuseum gab es bereits im 16. Jahrhundert Versuche, auf Basis von Milcheiweiß Kunsthorn zu produzieren. Über diverse Aktivitäten, zumeist in Zusammenhang mit Kautschuk, vorwiegend im 18. und 19. Jahrhundert, und Entwicklungen auf Cellulosebasis im 19. Jahrhundert begann etwa um die Wende zum 20. Jahrhundert die systematische Erforschung der Polymere. Wichtiges naturwissenschaftliches Basiswissen über die molekularen Zusammenhänge lieferte der deutsche Chemiker Hermann Staudinger, der für seine gundlegenden Arbeiten schließlich den Nobelpreis erhielt.
Der erste im großindustriellen Maßstab erzeugte synthetische Werkstoff war ein Phenolharz, vertrieben unter dem Produktnamen Bakelite zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bekannteste Anwendung dieses Duroplasten waren wohl die Gehäuse von Volksempfängern ab Mitte der 30er Jahre. In schneller Folge wurden neue Werkstoffklassen entwickelt wie das Polyvinylchlorid (PVC) und Polymethylmethacrylat (PMMA), das unter dem Produktnamen Plexiglas bis heute vielfältige Anwendungen abdeckt.
So wie beim Plexiglas wurden in vielen Fällen interessante Kunststoffe eher mit den Marken als mit den chemisch korrekten Bezeichnungen bekannt: Polyamid 6 (Perlon) und Polyamid 66 (Nylon), Polytetrafluorethylen (Teflon) oder der „Sekundenkleber“ Methylcyanoacrylat sind dafür nur einige Beispiele. Wer erinnert sich nicht an die ersten „Nylonhemden“, die dem modernen Mann Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre schmeichelten – und ihn nach wenigen Stunden im eigenen Saft schmoren und dementsprechend müffeln ließen?
So richtig Fahrt aufholten Kunststoffe zur Zeit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland: Aufgeschäumtes Polysterol (Styropor) wurde erstmals produziert. Niederdruck Polyethylen, Polyurethan-Weichschaumstoffe und kurze Zeit später das erste Polypropylen markieren diese Zeit des Aufbruchs. Und nicht zuletzt die erste Kunststoffmesse in Düsseldorf, die K, findet 1952 statt und markiert die zunehmende Bedeutung der Branche. Schlag auf Schlag werden weiter neue Kunststoffe entwickelt und in die Serienproduktion überführt. Noch wichtiger aber: Zunehmend suchen nicht Werkstofftechniker nach Anwendungen sondern Konstrukteure und Designer gehen gezielt auf die Suche nach Alternativen, um im Zuge des Wirtschaftsbooms neue Produkte kreieren, vorhandene aufzupeppen oder kostengünstiger produzieren zu können. Die in weiten Bereichen einstellbaren Materialeigenschaften, mechanische Kennwerte und Farben sowie die vielfältigen Möglichkeiten der Funktionsintegration in nur ein Werkstück weckten immer neue Begehrlichkeit. Und das ist bis heute so geblieben. Die Werkstoffkennwerte werden immer wieder verbessert bzw. deren Kombinationen optimiert, um neue Konstruktionen und Designs zu ermöglichen, ganz neue Problemlösungen zu generieren und schlussendlich die Kosten des Endprodukts zu senken.
Spezielle Farben und Effekte, gute elektrische und sogar thermische Leitfähigkeit – oder besondere Isolationswirkung, einfach sterilisierbare oder von sich aus gegen Keime resistente Kunststoffe, besondere Gleitfähigkeit, zwischen extrem hoher und geringer Härte einstellbare Werkstoffe oder höchste Temperaturfestigkeiten, besondere Transparenz oder Null Schwindung beim Erkalten – die Liste der Wünsche und Angebote ist so lang wie die der Anwendungen. Zum Teil gegenteilige Eigenschaften lassen sich mit Additiven oder dem Drehen an anderen Parametern dem gleichen Basismaterial zuordnen. Auch wenn Anwendungen wie das Nylonhemd wegen ihres Emissionsproblems (bei der Nutzung) zumeist recht schnell den Weg von der Disko in den Mülleimer angetreten sind.
Back to the Roots?
Aktuell bahnt sich eine Entwicklung an, den Kreis von organischen Stoffen zu Kunststoffen zu schließen: Bio-Kunststoffe sind das Schlagwort, unter dem sich Kunststoffe sammeln, die ganz oder teilweise aus natürlichen Werkstoffen gewonnen werden. Von der Verstärkungsfaser aus Hanf bis zum Milchsäure-basierten Einkaufsbeutel reicht die Skala. Wer jemals versucht hat, eine der Anfang der 80er Jahre populären „kompostierbaren“ Beutel im Garten zu verrotten, muss dabei aufmerken: Die üblicherweise auch nach zwei Jahren noch dem Hobbygärtner hindernd am Spaten hängenden Kunststofffetzen deuteten an, dass nicht jede Marketingaussage für biologische Münze genommen werden muss. Aktuell wird über ethische Probleme beim Verbrauch von Rohstoffen diskutiert, die auch der Nahrung dienen können. Außerdem schneiden nicht alle unter dem Label Bio vermarkteten Kunststoffe in einer umfassenden Ököbilanz zwingend besser ab als die konventionelle Konkurrenz. Das ist immer auch eine Frage, wer die anzulegenden Maßstäbe definiert.
Waren zu Zeiten des Bakelite vergleichsweise einfache Pressen in Kombination mit viel Handarbeit ausreichend für die Produktion, liegen die Anforderungen heute anders: Ob ein Riesenmüllbehälter komplett aus der Spritzgießmaschine fällt oder Mikrobauteile im Zehntel-Gramm-Bereich für medizinische Apparate – in einer Basistechnologie, dem Spritzgießen, entstehen Produkte, die auf den ersten Blick kaum etwas gemein haben. Dementsprechend aufwendig gestaltet sich die Produktion. Und auf die Idee, Folie zu produzieren, indem man einen Schlauch extrudiert und aufbläst, muss man erst einmal kommen – und das Realisieren der recht anspruchsvollen Anlagentechnik braucht noch einen weiteren großen Schritt.
Das Entwicklungsende noch lange nicht erreicht
Andererseits sind einige Ideen mehr als langlebig: ist die Idee, Kunststoffe und kostengünstige Zuschlagstoffe zu vermischen um spezielle Eigenschaften zu erzielen oder schlicht die Kosten durch Absenken des Polymeranteils zu drücken – heute unter dem Begriff Wood Plastics Composite, kurz WPC vermarktet – nicht neu. Mit aufwendiger Maschinentechnik werden Polymere und Holzmehl gemischt und gemeinsam extrudiert, beispielsweise zu Planken, mit denen sich Terrassen und Balkone belegen lassen. Auf diese Idee kamen eben auch schon die Bakelite-Verarbeiter, die den Pressmassen Holz- oder Gesteinsmehl zufügten.
In wenig mehr als einer Generation haben sie das Image vom billigen Ersatzstoff abgelegt und sind zur eigenständigen Werkstoffgruppe gewachsen. Wer kann sich heute noch vorstellen, dass Klaviertasten vor nicht langer Zeit aus Elfenbein bestanden? Ganz selbstverständlich werden heute Zahnfüllungen aus Kunststoffen produziert, nicht weil sie billiger sondern verträglicher sind als Metalle. Und Funktions- oder Sportbekleidung weben die Hersteller aus feinen Kunststoffgarnen, die natürlichen Stoffen zumeist weit überlegen sind – allerdings auch teurer. Und eine Windkraftanlage mit Blechfügeln ist schier undenkbar.
Metalle zu gewinnen, zu veredeln und zu verarbeiten – das lernten die Menschen kontinuierlich bis heute in mehr als 2000 Jahren. Und die Entwicklungen gehen ungebremst weiter. Die Geschichte der Kunststoffe ist, je nach Betrachtungsweise, kaum 150 Jahre alt. Unterstellt man, dass die Kunststoffe ein ähnliches Potenzial haben, dürfen wir uns darauf freuen, was sich in den nächsten 1850 Jahren entwickelt. So lange wird das Erdöl nicht reichen, aber Kunststofftechniker sind findig, es werden ihnen neue Lösungen einfallen – dafür und für viele Herausforderungen der näheren Zukunft.